sitz ein Mann in einem verschlissenen Kittel auf einer Bank unter einem alten Olivenbaum. Der Mond hat Silberfäden über die Landschaft gelegt, der Nachteule ein weißes Gewand übergeworfen und die Bank mit leuchtenden Arabesken überzogen. Es ist gut so wie es ist, denkt der Mann und lässt seinen krummen, alten Rücken mit den Arabesken verschmelzen. Sein Tagewerk ist vollendet. Die letzten Besucher haben sich in ihre unterirdischen Reiche oder ihre astfernen Schlafplätze nahe dem Himmel zurückgezogen. Nun kann auch er endlich Ruhe finden, die Augen schließen und – gehen.

Opa, die Bäume haben ja gar keine Blätter mehr!“ Die Stimme eines Mädchens drang an sein schlafendes Ohr. „Was?“ Er richtete sich mühsam aus dem Stuhl vor der Staffelei auf, vor der er eingeschlafen sein musste. „Die Bäume“, das Mädchen drehte sich im Kreis und zeigte dabei in die Landschaft. „Die Äste an den Bäumen sind kahl. Keine Blätter. Das ist nicht schön!“ Nein, dachte der alte Mann, hob einen Pinsel vom Boden auf und stellte ihn in den Farbtopf zurück. Das ist nicht schön. Und das gehört sich auch nicht. Nicht jetzt, zu dieser Jahreszeit. „Weißt du, Claire“, sagte er zu seiner Enkelin, „der Sommer war lang, heiß und trocken. Die Bäume, die Tiere, die Landschaft haben alle unter dieser Dürre gelitten, wir Menschen auch.“ Claire lief in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück. „Hier, Opa, damit du nicht mehr gelitten sein musst.“ Der alte Mann lächelte. „Danke, Claire, aber mir geht es noch gut. Ich kann mir Wasser aus dem Supermarkt besorgen, aber die anderen hier, die Bäume, Tiere und Pflanzen, die müssen mit dem leben, was die Erde ihnen bietet.“ Er beugte sich zu dem Mädchen hinunter. „Siehst du diese tiefen Risse im Boden, Clairechen?“ Das Mädchen nickte. „Die Haut der Erde beginnt zu schrumpfen und sich zusammenzuziehen. Sie reißt auf, wenn niemand sie pflegt.“ Das Mädchen begann, auf dem rissigen Boden herum zu hüpfen. „Dann pflege du sie doch, Opa!“ Wenn ich das nur könnte, dachte der Alte. Er hatte es versucht. Er hatte Briefe geschrieben. Er hatte mit Politikern gesprochen. Er hatte Vorträge an Schulen und Universitäten gehalten. Er wurde sogar einmal in eine Talkshow eingeladen. Nach seinem Auftritt aber nicht wieder. Zu verstörend, hatte ihm die Sendeanstalt mitgeteilt. Auch die Zeitungen hatten ihm keinen Platz mehr eingeräumt. Katastrophenszenarien gäbe es genügend in den Nachrichten, da wäre er nicht mehr erforderlich. „Kannst du denn nichts machen, Opa? Du bist doch Künstler!“ Seine kleine Enkelin klang verzweifelt. Das gab ihm einen tiefen Stich ins Herz. Gerade die Kleinsten, sagte er zu sich selbst. Die Wehrlosen. „Bitte Opa! Male den kahlen Ästen an den Bäumen neue Blätter an. Bitte, Opa!“

Der alte Mann erhob sich mühsam von seinem Stuhl. Zu lange schon hatte er nur da gesessen. Nichts getan. Nachgedacht und nichts getan. Es ist an der Zeit zu agieren und nicht immer nur zu reagieren. Er ging in die Waschküche, wusch sorgfältig seine Pinsel aus, holte sich ein Glas mit frischem Wasser und nahm die Malpalette in die Hand. „Was soll ich denn malen, Claire?“ Die Kleine hüpfte aufgeregt um ihn herum. „Alles, Opa! Alles, was dir einfällt und die Bäume fröhlich macht.“ Da begann der alte Mann mit dem ersten Blatt. Sein Pinsel hauchte ihm Farbe ein. Etwas Grün. Etwas Gelb. Etwas Rot. Schlag auf Schlag folgte bald ein Blatt dem anderen. Er malte wie besessen. Ohne Pause. Seine Enkelin stand neben ihm und staunte. So hatte sie ihren Großvater noch nie malen gesehen. Jedes Blatt, das er fallen ließ, bevor er sich einem neuen widmete, sammelte das Mädchen auf und lief zu irgendeinem kahlen Ast, um es dort anzubinden. Der Hain mit den alten Bäumen, die sich wie mahnende Hände kahl und knöchern in den Himmel streckten, wurde mit jedem Pinselstrich, mit jedem Lauf des Mädchens, bunter und bunter. „Mehr, Opa! Mehr!“ schrie das Mädchen, wenn es nach Luft hechelnd zurückgelaufen kam. „Da sind noch so viele!“

Die Sonne hatte ihre Glutbahn über die Landschaft gezogen und bereitete sich auf die Nacht vor. Der Mond würde sie ablösen, etwas Kühlung verschaffen. „Wir haben es gleich geschafft, Opa!“ drang die Stimme weit weg aus dem Hain an das Ohr des Alten. Ein letzter Pinselstrich. Das Blatt, noch nass, fiel zu Boden. Der Pinsel entglitt seiner Hand. Er lehnte sich zurück. Hatte es gereicht? Er wusste es nicht. Das Mädchen, seine Claire, würde es ihm bestimmt sagen können. Jetzt war er müde. Ausgelaugt. Wie der Boden. Kein Wasser in der Nähe. Nur der Maltopf. Egal, dachte er, langte zum Gefäß hinunter und setzte es an seine Lippen. Das war mehr, als man den Tieren und Pflanzen gönnte. Er faltete die Hände in seinem Schoß. Vielleicht würde auf seinem Grabstein stehen: Sepp Témber, Kunstmaler, der den Bäumen ihr buntes Kleid wiedergegeben hat, im Herbst nach einem Sommer, als die Erde aufbrach und selbst der kühle Glanz des Mondes keine Linderung brachte. Das gefiel ihm.

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