Nachdem Gott erschaffen wurde, saß er dämlich dreinblickend da und fragte sich, warum er dasaß und darüber nachdachte, weshalb er erschaffen wurde und warum er dämlich dreinblickte.
Äonen vergingen. Eines nachts beschloss er, selbst zu erschaffen. Aber nicht so, wie er annahm, wie er erschaffen worden war: wohl durchdacht und geplant. Stattdessen wollte er erschaffen aus einer Laune heraus, just for fun. Erschaffen, weil er es konnte. Ich bin erschaffen, also erschaffe ich, sprach er laut zu sich selbst und das war der Anfang und die Geburt aller Worte.
Er phantasierte sich eine Welt zusammen, Stück für Stück. Wiederum vergingen Äonen. Am Ende setzte er zwei Menschen in diese Welt. Wesen, dessen weiblicher Part den verbotenen Apfel aß, ihn an ihren männlichen Begleiter weitergab, der ebenfalls genüsslich von der Frucht naschte. Gott jagte sie davon, in seine weite und unter Mühen geschaffene Welt, in der sie seitdem rastlos und migrierend umherziehen.
Seiner Genialität folgend erfanden die Menschen Zeichen. Das erste war das A. Es stand für den Anfang. Oder den Apfel, den die Stammeltern vom Baum der Erkenntnis gestohlen hatten. Die Menschen malten dieses Zeichen an Höhlenwände und Felsen. Es wirkte wie Werbung auf einer Litfaßsäule: Die verbotene Frucht wurde zu einem Leckerbissen.
Dem A folgte das B. Das Zeichen für Beten. Beten, dass die Erkenntnis vorübergehe.
Eine kluge Frau entdeckte, dass die beiden Zeichen sich kombinieren ließen, zum Beispiel zu ABBA. Es dauerte Jahrtausende und länger, bis fast jeder Mensch diese Kombination kannte.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Dem A und dem B folgte das C. Die Menschen begannen, die Kombinationen der Zeichen Worte zu nennen. Immer neue wurden erfunden, einige davon sind heute strafbar.
Bald schon wurden Worte aneinandergereiht. Es entstanden Sätze und aus diesen, wiederum aneinandergereiht, Geschichten. Erfundene, Erzählungen von Vergangenem oder Träumen über eine bessere Zukunft.
Irgendwann erfand irgendjemand das Z. Und nun meinte die Mehrheit der Menschen, es sei nun genug der Zeichen, die man benötigt, um die Wahrheit über das Sein und das Werden auszudrücken. 26 sollten reichen. Nur die Chinesen konnten nicht aufhören, neue Zeichen zu erfinden und diese kunstvoll zu kalligraphieren.
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Wie ein Film auf der unendlichen Leinwand des Universums zog die Menschheitsgeschichte in Bildern an dem Gott vorbei. Während er fasziniert dem Treiben der Menschen zuschaute und für ihn gerade mal eine halbe Spielfilmlänge verging, erlebten die Menschen Jahrtausende.
Nun waren sie überall auf dem Planeten. Aus dem Garten Eden vertrieben, eroberten sie die ganze Erde. Migration, so kombinierten sie ihre Buchstaben zu einem Wort und erzählten ihre Geschichte.
Der galaktische Film katapultierte den Gott in das menschliche Hier und Jetzt. Gespannt betrachtete er eine Szene, in der ein Mann mit einem auffallenden langen Bart, der Johannes Gutenberg genannt wurde, den Buchdruck erfand. Fortan waren die Vervielfältigung und Verbreitung der Wortkombinationen über Erlebnisse, Erdachtes oder Erträumtes wesentlich einfacher.
Der Film stoppte und stellarer Nebel legte sich über das Bild. Ein Abspann unterbrach den Lauf der Zeit und kündigte in einem Trailer die Fortsetzung an: Die aus den Zeichen gebildeten Worte werden zum Alptraum der Menschen werden.
Der Gott bemerkte, dass nicht mehr er der Herr der Zeit und der Worte war, sondern der sonderbare Film. Nun sollte er warten und würde erst einen Abend später erfahren, wie die Geschichte der zu Worten kombinierten Zeichen ausging. Oder würde es mehr als zwei Folgen geben, fragte er sich. Oder gar mehrere Staffeln?
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Wie abertausende andere sitzen auch Marlies und Hendrik vor dem Fernsehgerät. In zehn Minuten soll Teil zwei der Serie Macht der Worte starten.
»Glaubst du das?«, will sie von ihm wissen.
»Was?« schreckt er hoch und nimmt sich eine Handvoll Erdnüsse aus der Schale auf dem Wohnzimmertisch.
»Na, dass gar nicht mehr Menschen die Texte schreiben, sondern diese ominöse Künstliche Intelligenz? Das also Maschinen bestimmen, was wahr und falsch ist. So wie Google: Was die behaupten, hält jeder für wahr. Wir können nichts nachprüfen.«
»Künstliche Intelligenz sind wir auch, schließlich hat Gott uns erschaffen. Also sind wir künstlich«, stellt Hendrik lapidar fest.
Marlies schaut ihn mit einem künstlichen und schiefen Lächeln an.
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Zwischen der Wettervorhersage und dem zweiten Teil der Serie werden Nachrichten gequetscht. Der Gott entschließt sich, sie entgegen all seinen Gewohnheiten anzuschauen. Kriege, Katastrophen, Hunger, Bundesliga.
In einem Krieg werden Menschen neutralisiert, in einem anderen eliminiert oder ausgeschaltet. Flugzeuge eines Landes fliegen Selbstverteidigungsangriffe. Ein Regierungsmitglied will kriegstüchtig werden.
»Was passiert eigentlich mit unseren Gedanken und Gefühlen, wenn wir solche Worte hören oder benutzen?«, fragt Marlies ihren Mann.
Der schaut unverdrossen und ohne zu antworten auf den Bildschirm.
Marlies erinnert sich an einen Bericht über Marc Aurel, den sie vor Tagen las. Er sagte vor fast 2000 Jahren, ohne auf einen Bildschirm zu schauen: »Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken.«
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Am Ende der Nachrichten findet an manchen Tagen die Kultur ihren Platz. So auch heute. Der Duma-Abgeordnete Vitalij Milonow, den weder Marlies noch Hendrik kennen, forderte in einer Fernsehsendung, die Russin Elena Malisowa und die Ukrainerin Katerina Silwanowa, die zusammen den Roman Du und ich und der Sommer geschrieben haben, sollten in der Moskwa ertränkt werden.
Sie wären nicht die Ersten, die ihre Worte mit dem Leben bezahlen müssten. Viele, mehr als genug, Autorinnen und Journalistinnen habe ihre Worte, ihre Arbeit, ihre Bücher mit Gefängnis oder ihrem Leben bezahlen müssen.
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Der Gott, der auf den Filmstart wartet, erinnert sich an einen Mann, der zu Beginn des Jahres 1950 starb und zu einem Teil des Himmels wurde, wo immer dieser sein mag. Orwell hieß er. Der Gott lässt ihn rufen.
»Woher wusstest du schon 1947, als du begonnen hast, 1984 zu schreiben, wohin die Entwicklung der Menschen gehen wird?«, will er von ihm wissen.
George Orwell schaut ihn traurig an. »Mit Worten ist das so eine Sache. Sie können die Wahrheit hinaus in die Welt tragen, sie helfen bei der Reflektion und sie dienen dazu, über unsere Träume zu reden.«
»Das ist doch nicht schlecht« wendet der Gott ein, ohne darauf einzugehen, dass Orwell seine Frage nicht beantwortet hat.
»Aber«, entgegnet Orwell, »die Worte verkörpern auch Macht. Gute oder schlechte. Du müsstest das doch wissen. Oder erinnerst du nicht mehr die Zeit, in der der vollkommen bartlose Mann mit den kurzen Haaren und der komischen Kopfbedeckung seine Thesen an eine Kirchentür genagelt hat?«
»Das stimmt«, gibt der Gott zu. »Aber heutzutage verlieren die Worte der Bibel ihre Macht. Früher reichte es, 10 Gebote auf eine Schiefertafel zu meißeln. Oder mal einen verdorrten Dornbusch abzufackeln. Aber heute?«
»Versuche es mal mit TikTok«, schlägt Orwell vor. Der Gott schaut ihn verständnislos an.
»Worte tragen nicht nur Wahrheit und Träume in sich«, ergänzt Orwell seine Bemerkungen. »Sie können auch missbrauchen, auf zwei verschiedenen Wegen. Statt zu lügen, werden beschönigende Worte verwendet. Menschen werden nicht getötet, sondern neutralisiert. Alles also halb so schlimm. Oder der Sinn der Worte wird verdreht. Und wenn das alles nicht reicht, dann werden die Texte von Andersdenkenden zur Straftat erklärt und aus dem Verkehr gezogen.«
Orwell kommt in Fahrt. Berichtet von einer Gefangenen in Kurdistan, die verbotenerweise in ihrer Heimatsprache Lieder gesungen hat. Von anderen verbotenen Autorinnen.
Der Gott will das alles nicht mehr hören und schickt Orwell zurück an seinen Platz im Himmel.
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Dem Gott drängt es zu wissen, wie die Serie im Fernsehen ausgeht. Ihm sei Dank, er kann streamen, denn der Film hat längst begonnen.
Inzwischen ist er zu einem Freund der Digitalisierung konvertiert. Egal, wie viel Energie dadurch und durch künstliche Intelligenz verschlungen wird. Schließlich gibt es genug davon im Weltall, fast unbegrenzt, bis irgendwann die Entropie zuschlägt. Bis dahin sind noch Äonen Zeit und er kann sich durch die menschlichen TV- Serien zappen. Wenn nur nicht die Menschheit vorher schlapp macht, alles vermurkst, wie es sich schon bei der Geschichte mit dem Apfel angedeutet hat. Manchmal hat der Gott überhaupt kein gutes Gefühl.
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Der Film zeigt, wie Professor Wegerich vor seinem Auditorium auf und ab geht und doziert.
»Worte beinhalten eine eigene Macht. Sie sind in der Lage, die Welt zu verändern und neue gesellschaftliche Realitäten zu erzeugen. Buchstaben und Worte, geboren aus der verbalen Kommunikation, sind vielleicht die größte Erfindung der Menschheit, denn sie sind geeignet, die Entwicklung voranzutreiben.«
Ein Student, lange dunkle Haare fallen bis auf seine Schultern, meldet sich und der Prof fordert ihn zu sprechen auf.
„Marcus Aurelius schrieb: Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, keine Wahrheit.«
»Werden Tatsachen zu Meinungen, werden Völkermorde zur Ansichtssache degradiert«, Kontert der Prof.
Orwell meldet sich zu Wort. »Marc Aurel war vor 2000 Jahren. Heutzutage wird behauptet, alle verschiedenen Perspektiven bilden die Wahrheit ab. Das, was man selbst verbreitet, das sei Wahrheit. Ich nenne es immer noch New Speech. Soll irgendwo im Sozialen Geld gekürzt werden, dann gibt es ein Dingsbums- Verbesserungsgesetz. Und schreiben Autoren davon, was sie und andere bewegt, was aber nicht die Sichtweise von Diktatorinnen ist, können ihre Bücher auf dem Index landen und sie selbst in einer Gefängniszelle.«
»Recht hat er«, ruft eine Studentin. »Schaut euch um in der Welt, Kommilitoninnen.«
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Der Gott versteht die Szene im Hörsaal nicht. Hätte er bloß den Baum der Erkenntnis nicht in Reichweite von Adam und Eva gepflanzt. Und überhaupt: Wie kommt dieser Orwell in den Hörsaal? War der in der vorherigen Folge der Serie nicht längst im Himmel, dort, wo auch er ihn gerade erst hinschickte? Ist er entwischt?
Der Gott hat genug gehört und gesehen. Er kann sich denken, welch einen Weg die Menschen gehen werden und wie die Serie ausgehen wird. Er schaltet Bild und Ton ab.
Jeder Film läuft weiter, auch wenn seine Zuschauer abspringen. Auch dieser. Jetzt eben ohne den Gott.
Der Student und die Studentin, die sich im Hörsaal zu Wort gemeldet haben, machen sich auf zur Mensa, um Kaffee oder Tee zu trinken. Was sie trinken werden, tut nichts zur Sache.
»Eine Ironie des Schicksals«, postuliert sie.
»Wie meinst du das?«, fragt ihr Begleiter und streicht sich seine Haare aus dem Gesicht.
»Die Menschen erfinden Zeichen, die sich zu Worten zusammenfügen lassen. Die Worte verbinden sich und schaffen selbst etwas Neues.«
»Sie tun es nicht von alleine. Es sind die Künstler der Worte, die aus ihnen Geschichten erschaffen. Und die Leser der Worte, die ihre ganz eigene Geschichte und die eigenen Träume beim Lesen erleben.«
Ein stattlich großer Mann in Uniform tritt an den Tisch, an dem der Student und die Studentin sitzen.
»Das dürft ihr nicht schreiben, alles Lüge«, blafft er die beiden an.
Der Student entgegnet »Doch, wir dürfen.«
»Ihr werdet ins Gefängnis geworfen werden«, droht er und klappert hinter seinen Rücken mit Handschellen.
Ein weiterer Mann, der noch längere Haare trägt als der Student und die sehr lockig sind, schiebt sich zwischen die jungen Leute und dem, der die Drohung ausgestoßen hat. Er wendet sich an die Studenten: »Ich mag verdammen, was ihr sagt, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass ihr es sagen dürft.«*
»Was bist du denn für einer«, fragt der Uniformierte genervt.
»Man nennt mich Voltaire«, gibt der Langhaarige zurück.
Der Professor tritt hinzu, erweitert den Kreis. »Manchmal schreiben sich Worte wie von alleine. Aus Freude oder aus Wut. Sie reihen sich aneinander, ohne eine Erzählung zu bilden, aber trotzdem sind sie eine. Das ist gut, denn daraus entsteht Nachdenken.«
Der Gott, der inzwischen wieder dem Treiben in dem Film zuschaut, verzichtet darauf, mit Blitzen aus seinen Augen den Uniformierten zu töten. Stattdessen lächelt in seinen Augen ein hoffnungsvolles Licht. Er muss nicht die Zeichen und Worte verteidigen. Die Menschen können es selbst.
*Im Original: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.”
Bild von Mohamed Hassan auf Pixabay