Farben des Lebens
Manchmal findet man sein Leben, ohne es gesucht zu haben.
Als das Blatt nach einer kalten Herbstnacht bemerkte, dass es keine Verbindung mehr zum Baum hatte, da schwieg es aus Angst, anders zu sein als die Blätter ringsum.
Doch an den folgenden Tagen wurde es gelb und braun, und alle konnten es sehen. Wind kam auf, und hilflos trieb das Blatt zur Erde, genau vor einen Igel. Das Blatt hatte den Igel bisher nur von oben gesehen, wo es für ihn unerreichbar war. Deshalb meinte es, sich entschuldigen und erklären zu müssen, und sagte:
„Eigentlich gehöre ich dort oben hin, wo das Laub am dichtesten ist.“
Der Igel erwiderte:
„Ich sehe nur, dass Du hier unten meine Nahrung bedeckst wie tausend deinesgleichen, die neben dir liegen, braun und spröde. Wie solltest Du jemals leuchtend grün dort oben gewesen sein?“
Das Blatt sah hinauf in den Baum, wo die anderen Blätter unbesorgt rauschten und konnte es selbst nicht mehr glauben. Als es jedoch so auf dem Boden lag und den Hang hinunterschaute, spürte es unvermutet ein wohliges Behagen im Licht des Herbstes. Staunend verfolgte es den hohen Zug der Wolkenberge, den es inmitten der Krone des Baumes nie zuvor gesehen hatte. Dass es so Schönes gab!
In diese neuen Eindrücke versunken bemerkte es nicht, dass inzwischen immer mehr Blätter vom Baum keine Nahrung und keinen Halt mehr bekommen hatten und zur Erde hinab gesunken waren.
Es bemerkte auch nicht, dass es mit seinem welken Leib den Boden wärmte, in dem das frische Grün des kommenden Frühlings schon bereit war.
Eines Tages kam der Igel und schob das Blatt mit den anderen Blättern ringsum zu einem kleinen Haufen und legte sich unter ihnen schlafen.
Im Fallen des ersten Schnees wurde die Zeit langsamer und langsamer. Schließlich stand sie still.
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