Anti-Kriegs-Dichter Artyom Kamardin inhaftiert und gefoltert
Der junge russische Dichter und Aktivist Artyom Kamardin wurde wegen der öffentlichen Lesung eines Gedichts gegen den Krieg 2023 zu sieben Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft wurde er gefoltert. Sein Gesundheitszustand ist besorgniserregend. Artyom Kamardin hat kein Unrecht begangen, er muss medizinisch versorgt und sofort freigelassen werden!
Am 22. September 2022 trug Artyom Kamardin bei einer Lesung in Moskau öffentlich ein Anti-Kriegs-Gedicht vor. Die Lesung fand aus Protest gegen die am Vortag ausgerufene Mobilmachung statt, mit der Soldat*innen für die russische Armee im Angriffskrieg gegen die Ukraine rekrutiert werden sollten.
Vier Tage später drangen bewaffnete Polizist*innen gewaltsam in Artyoms Wohnung ein, folterten ihn und seine Partnerin und nahmen Artyom fest. Am 28. Dezember 2023 verurteilte ein Bezirksgericht in Moskau ihn wegen konstruierter Anklagen zu sieben Jahren Gefängnis.
Artyom leidet seit Monaten unter starken Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel und Tinnitus. Die Behörden verweigern ihm jedoch eine angemessene medizinische Untersuchung oder Behandlung.
Ein kritisches Gedicht ist kein Verbrechen. Artyom Kamardin hat sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen und wurde nur deshalb inhaftiert. Erheben wir jetzt gemeinsam unsere Stimmen für Artyom: Er muss sofort bedingungslos freigelassen werden!
Unterschreibe jetzt die Petition und fordere Artyoms sofortige Freilassung!
Petition unterschreiben (Link zu Amnesty International)
Zum Ort des Vortrages von Kamardin
Die Poesie-Lesungen auf dem Majakowski-Platz
In den 1950er- und 1960er-Jahren spielte der Majakowski-Platz (heute der Triumphplatz) in Moskau eine bedeutende Rolle als Treffpunkt für inoffizielle Poesie-Lesungen. Er wurde zu einem Ort, an dem kultureller und politischer Widerspruch im Nach-Stalinismus Ausdruck fand.
Am 29. Juli 1958 wurde auf dem Majakowski-Platz ein Denkmal für Wladimir Majakowski enthüllt. Während der offiziellen Zeremonie trugen sowjetische Staatsdichter ihre Werke vor. Nach Abschluss der Feier begann jedoch auch das Publikum, freiwillig Gedichte zu rezitieren. Diese Atmosphäre einer relativ freien Meinungsäußerung zog viele an, und schon bald wurden die öffentlichen Lesungen am Denkmal zur Regel. Vor allem junge Menschen, meist Studenten, trafen sich beinahe allabendlich, um die Werke vergessener oder unterdrückter Schriftsteller vorzutragen. Einige lasen auch ihre eigenen Texte und diskutierten über Kunst und Literatur. Unter ihnen befanden sich die jungen Dichter Jewgeni Jewtuschenko und Andrei Wosnessenski, die mit ihren Werken eine Gratwanderung zwischen offizieller Veröffentlichung und jugendlichem Protestgeist wagten. Obwohl sie abwechselnd getadelt und diszipliniert wurden, tolerierte man ihre Auftritte.
Diese spontanen Versammlungen wurden jedoch bald von den Behörden unterbunden.
Im September 1960 lebten die Treffen am Majakowski-Denkmal erneut auf, diesmal mit einem offener politischen Charakter. Initiiert wurde dies von dem Biologiestudenten Wladimir Bukowski und einem kleinen Kreis universitärer Freunde. Doch die Bewegung gewann schnell an Dynamik und etablierte sich als regelmäßiges Ereignis. Der Platz und das Denkmal erhielten den Spitznamen „Majak“ („Leuchtturm“).
Zu den Lesungen, an denen gewöhnlich mehrere Hundert Menschen teilnahmen, kamen sowohl Anhänger der „reinen Kunst“ als auch solche, die von oppositioneller Politik inspiriert waren. Gedichte von Nikolai Gumiljow, Boris Pasternak und Ossip Mandelstam wurden ebenso vorgetragen wie Werke der sowjetischen Nonkonformisten und der Formalisten. Während einige Teilnehmer darauf beharrten, dass Kunst frei von politischem Einfluss bleiben müsse, fühlten sich andere gerade durch die gesellschaftlichen Implikationen der Treffen angezogen. Besonders für oppositionelle Studenten, die sich nach Chruschtschows Bericht über Stalins Säuberungen von 1956 formierten, war die Unabhängigkeit der Kunst nur ein Aspekt ihrer Systemkritik.
Der studentische Kreis um den Majakowski-Platz begann bald, inoffizielle Gedichtsammlungen in sogenannten Samisdat-Publikationen zu verbreiten. Sie veröffentlichten nicht nur eigene Gedichte, sondern auch Werke von Nikolai Sabolozki, Dmitri Kedrin und Marina Zwetajewa. Der Dichter und Journalist Alexander Ginsburg brachte drei Ausgaben von Sintaksis heraus, bevor er 1960 erstmals verhaftet wurde. Wladimir Ossipow publizierte im November desselben Jahres eine Ausgabe der Zeitschrift Bumerang, die sich an Ginsburgs Arbeit orientierte. 1961 brachte Juri Galanskow die Zeitschrift Feniks-61 heraus.
Die Teilnahme an diesen Aktivitäten zog harte Strafen nach sich: Studenten wurden von ihren Hochschulen ausgeschlossen und auf schwarze Listen gesetzt. Regelmäßig wurden Durchsuchungen durchgeführt, Kämpfe provoziert, und der Platz wurde gelegentlich während der üblichen Treffzeiten abgesperrt.
Am 14. April 1961 organisierte die Gruppe am Majakowski-Platz eine Lesung, um an den Jahrestag von Majakowskis Suizid zu erinnern. Diese Versammlung wurde zur größten und bedeutendsten. Sie fiel mit den Feierlichkeiten zu Juri Gagarins Raumflug zusammen, wodurch viele Neugierige hinzukamen. Die Veranstaltung wurde jedoch gewaltsam aufgelöst.
Im Sommer 1961 wurden viele der beteiligten Personen verhaftet. Wladimir Ossipow, Eduard Kusnezow und Ilja Bokschtein wurden unter dem Vorwurf der „antisowjetischen Agitation und Propaganda“ verurteilt. Ossipow und Kusnezow erhielten jeweils sieben Jahre Lagerhaft, Bokschtein fünf. Wladimir Bukowski wurde im Frühjahr 1961 verhört und von der Universität ausgeschlossen.
Im Herbst 1961 berichteten ausländische Medien erstmals über die Treffen. Die Behörden reagierten mit einer Kampagne zur endgültigen Zerschlagung der Lesungen. Der KGB ließ Schneepflüge um das Denkmal kreisen, um die Veranstaltungen zu verhindern. Nach einer letzten Zusammenkunft am Eröffnungstag des 22. Parteikongresses der KPdSU im Oktober 1961 wurden die Lesungen offiziell verboten.
1965 erlebten die Versammlungen eine kurze Wiederbelebung durch eine neue Jugendgruppe namens SMOG. Der Name konnte als „Kühnheit, Gedanke, Bild und Tiefe“ oder als „jüngste Gesellschaft von Genies“ gedeutet werden. Diese Gruppe verband literarische Freiheit mit politischem Interesse an der russischen revolutionären Tradition von den Dekabristen bis hin zu Lenin.
Am 14. April 1965 organisierten die SMOGisten eine „literarisch-politische“ Versammlung, um an Majakowskis Todestag zu erinnern, und stellten Forderungen, darunter die offizielle Anerkennung ihrer Gruppe durch den Schriftstellerverband. Doch auch diese Bewegung wurde bald unterdrückt. Nach einer letzten Demonstration im September 1965 entschieden die SMOG-Mitglieder, die Treffen einzustellen.
Am 25. September 2022, inmitten eines neuen politischen Klimas, las der 33-jährige Dichter Artyom Kamardin ein Gedicht gegen die russische Invasion in der Ukraine vor – wieder auf dem heutigen Triumphplatz. Er, Yegor Shtovba (fünfeinhalb Jahre Haft) und Nikolay Dayneko (vier Jahre Haft) wurden später zu harten Haftstrafen verurteilt.
Das Niederdeutsch-Friesische PEN-Zentrum (aspiring) fordert die sofortige Haftentlassung der drei Lyriker.
Foto: Kyiv Independent via Sota
Texte via Amnesty International und der englischen Ausgabe von Wikipedia.